Vom 10. bis 13. September war ich zum letzten Mal in Hasankeyf, am Tigris, in Ilisu. Ich habe mich verabschiedet, von den Bewohnern, dem Fluss, der Landschaft. Eines der bedeutendsten Gebiete der Menschheit wird untergehen, im Stausee des Ilisu-Staudammes.
Auch heute, zwei Wochen später, kann ich noch nicht richtig darüber sprechen oder es beschreiben. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar. Unfassbar, dass so etwas im 21. Jahrhundert passiert, mit all unserem Wissen, den internationalen Verbindungen, der globalen Sicht und Aufmerksamkeit. Ich engagiere mich seit 30 Jahren im Naturschutz, habe viel Zerstörung in der Zeit gesehen, aber dies hier in Mesopotamien geht mir deutlich näher, als alles vorher. Als ich vor der 136 Meter hohen und 1,8 Kilometer langen Staumauer in Ilisu stehe, wollen Journalisten wissen, was ich empfinde. Eine Mischung aus Traurigkeit, Frust und Wut. Wut auf alle die, die da mitmachen, auf die türkische Regierung, auf die Baufirmen wie die Österreichische Andritz sowie auf die, die einfach geschwiegen haben. Und dann die nagenden Zweifel, ob ich und wir wirklich alles getan haben, um diesen Wahnsinn zu verhindern. Was hätten wir besser machen müssen?
Von 2006 bis 2011 habe ich die internationale Kampagne „Stop Ilisu“ koordiniert. Zuerst noch beim WWF Österreich, ab 2007 dann für die NGO ECA Watch und für die Manfred-Hermsen-Stiftung aus Bremen. Ohne die Bremer Stiftung wäre die Kampagne nicht möglich gewesen. Sie hat Stop Ilisu auch in Zeiten unterstützt, als viele andere sich schon abgewendet hatten. Zusammen mit NGOs aus der Schweiz (Erklärung von Bern), aus Deutschland (Gegenströmung), der Türkei (Doga Dernegi + Hasankeyf Girisimi) und vielen weiteren Leuten in Österreich und der Türkei habe ich versucht, Hasankeyf und den Tigris zu retten.
2009 sah es sehr gut aus, als Deutschland, Österreich und die Schweiz ihre Exportkreditgarantien kündigten und sich aus dem Projekt zurückzogen. Ihnen folgten die involvierten europäischen Firmen und Banken. Mit einer Ausnahme: die österreichische Andritz AG verblieb im Projekt.
Doch nach einer kurzen Schockstarre, ließ der türkische Präsident Erdogan weiter bauen. Der Einstau begann vor wenigen Wochen. Mehr zur Chronologie
Als ich zusammen mit Journalisten am 10. September abends in Hasankeyf ankomme, wirkt zunächst alles wie immer. Männer sitzen von den Tea Shops und trinken Cay. Touristen schlendern durch die Marktstraße und über die Tigrisbrücke donnern LKW. Doch am nächsten Morgen wird das Ausmaß sichtbar. Die 1.000 Jahre alten Brückenpfeiler wurden ummantelt und die berühmten Klippen von Hasankeyf, an deren Fuß sich einst die vielen Restaurants befanden, sind verschwunden, hinter einem riesigen Schutzwall.
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Im Ort stehen heute viele Häuser leer, wohin die Bewohner gegangen sind, weiß ich nicht. Einige kulturhistorische Gebäude, wie die zwei Minarette, wurden abgebaut und im Archäologiepark in Neu-Hasankeyf wiederaufgebaut. Andere Bereiche der Stadt sind unter einem Sarkophag verschwunden, unter einem Betonmantel. Überall fahren LKWs, reißen Häuser ab, schütten Erde und Steine woanders auf. Eine Baustelle eben.
Am Anfang kann ich das Ausmaß nicht wirklich fassen. Ich fühle mich merkwürdig distanziert. Ich laufe durch Hasankeyf, erkenne hier und da Bewohner wieder, Umarmungen, small talk, gutes Essen in Restaurants, am Abend Bier mit den Journalisten.
Doch in den nächsten Tagen wird es mir mehr und mehr bewusst. Vor allem als wir am 12. September im ARD Auto nach Ilisu fahren. Das ganze Obere Mesopotamien wird umgedreht. Überall neue Straßen, Brücken, Militärposten usw. Und als wir schließlich an der Staumauer stehen, die höher ist als der Wiener Stephansdom, wird eine weitere Folge von Ilisu deutlich: es kommt nur ein Rinnsal aus dem Damm heraus, der Rest wird aufgestaut.
Es wird zwischen einem halben und einem ganzen Jahr dauern, bis der Stausee sein endgültiges Ausmaß erreicht hat, je nachdem, wieviel Wasser der Tigris führt. Insgesamt 1.400 km Flüsse werden zerstört, davon 400 km eingestaut (Tigris + Nebenflüsse) und 1.000 km flussabwärts werden die Mesopotamischen Sümpfe im Südirak trockenfallen, denn Ilisu hält v.a. im Frühjahr die Hochwässer zurück. Das sind jene Wässer, die lebensnotwendig für diese Sümpfe sind. Dieses Gebiet gilt als die „Wiege der Zivilisation“. Wie viele Tierarten aussterben werden, weiß niemand, denn es gab keine biologischen Untersuchungen, keine UVP. Die Leopardenbarbe oder die Euphrat Weichschildkröte dürften aussterben und mit ihnen viele andere. Etwa 60.000 Menschen verlieren ihre Heimat, 199 Dörfer und Siedlungen gehen verloren. Es werden neue Siedlungen gebaut, doch es werden sich nicht alle diese Häuser leisten können, viele werden in die Armutsviertel nach Diyarbakir gehen oder versuchen ganz auszuwandern.
Auch diejenigen, die es sich leisten können, z.B. nach Neu-Hasankeyf umzuziehen, müssen sich auf ein ganz anderes Leben einstellen, eines ohne die gewohnte soziale Gemeinschaft, ohne ihre Nachbarn, Freunde, Verwandte. Außerdem sind die Böden karg und steinig, da wächst kaum etwas.
Am Donnerstagabend gehe ich zum letzten Mal durch Hasankeyf, verabschiede mich von Ömer und vielen anderen im Ort. Anschließend verabschiede ich mich auf der Brücke vom Tigris. Nach 10.000 Jahren Geschichte wird das alles zerstört. Noch dazu von einer angeblich erneuerbaren „sauberen Energieform“. Es ist zum Heulen und zum Kotzen gleichzeitig.
Am Freitag, den 13. September fliege ich zurück nach Wien. Das folgende Wochenende verbringe ich zu Hause, werde krank. Bis heute habe ich das ehrlich gesagt nicht richtig verarbeitet. Wir haben in der Kampagne viel gegeben, aber offensichtlich nicht genug. Wir haben verloren. Aber nicht nur wir, die sich gegen das Ilisu Projekt engagiert haben, sondern alle Menschen haben verloren. Denn Hasankeyf und Mesopotamien ist kulturgeschichtlich das gleiche, was etwa der Amazonas Regenwald für die Ökologie der Erde ist. Ein Welterbe, es gehört allen Menschen. Gehörte.
Am 8. Oktober wird die Marktstraße in Hasankeyf „platt gemacht“, die Häuser zerstört und die Brücke über den Tigris gesperrt. Danach warten alle aufs Wasser. Wir verlieren die Welt.
Kann man aus Ilisu etwas lernen? Auch mit etwas Abstand und der Erfahrung von 30 Jahren beruflichem Engagement im Naturschutz, fällt es mir schwer. Es ist mehr ein Gefühl als ein Wissen. Wir müssen viel mehr werden, die sich einmischen und v.a.: Wir dürfen und müssen wütender sein und vehementer gegen die, die unsere Welt zerstören, vorgehen. How dare you!
Ulrich Eichelmann am 6. Oktober 2019